Ein bitterer Absturz
und der ewige Neubeginn

Der Abschied schmeckte bitter. Ein paar Fans hatten sich an die Spielfeldumzäunung geklammert, als wollten sie die guten, alten Dynamo-Zeiten festhalten und damit retten, was nicht mehr zu retten war. Ausgerechnet Ex-Dynamo Ulf Kirsten hatte für das letzte Gegentor der Sachsen in Deutschlands Eliteliga gesorgt, das letzte für vermutlich sehr lange Zeit. Michael Spies hatte für die Schwarz-Gelben ausgeglichen - 2:2 und dann war Schluss. Ralf Minge war in die Kurve der Dresdner gekommen, auch er mit einem dicken Kloß im Hals, auch er kämpfte mit den Tränen. Die „Marmor, Stein und Eisen bricht!"-Gesänge aus etwas mehr als 3000 Kehlen im Gästeblock, die während der 90 Minuten auch von Knallkörpern und Ausbruchversuchen einiger Chaoten begleitet worden waren, wurden nun durch verzweifelt klingende „Dynamo, Dynamo!"-Rufe ersetzt. Kein Dresdner Fan hatte den Gästeblock verlassen. Die Aufforderung über die Anzeigetafel, sich 15 Minuten zu gedulden, um Trainer und Mannschaft verabschieden zu können, erschien nahezu überflüssig. Ralf Minge winkte ein letztes Mal mit einem Blumenstrauß. Keine Stunde später trösteten die Spieler die Treuesten der Treuen am Mannschaftsbus. Als der sich in Bewegung setzte, war der bittere Augenblick gekommen. Es war nicht nur der Abschied von der Bundesliga. Dieser 17. Juni 1995 besiegelte das Ende einer Ära, die 26 Jahre zuvor mit dem Aufstieg der SG Dynamo Dresden in die DDR-Oberliga begonnen hatte. Für die Anhänger unbegreiflich, ihre Mannschaft war abgestiegen in die Drittklassigkeit. Die Gedanken der Anhänger galoppierten, nur ein Jahr nach der ausgelassenen „Minus vier – na und?-Party" einfach aus und vorbei, wie konnte das nur passieren? Die besten Spieler waren verscherbelt worden, mit Methode und um jeden Preis. Damit hatte die Mannschaft ihren Geist und den Charakter verloren. Die Lücken in den Reihen der Dresdner Helden füllten Fußball-Legionäre, die fast ausnahmslos Mittelmaß verkörperten. Was für ein Trost, für viele sollte es die letzte Chance zum Abkassieren gewesen sein.

 

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Das Neue Jahr begann für Dynamo mit vielen Überraschungen, leider ausnahmslos unangenehmer Art. Zunächst bekam Torsten Gütschow vom Verein die Gelbe Karte und wurde als Kapitän abgesetzt. Der in privaten Schwierigkeiten steckende Torjäger, am Thresen schon seit längerer Zeit engagierter als auf dem Trainingsplatz, hatte auf dem Strietzelmarkt randaliert. Bereits erheblich angetrunken, war er zu einem Glühweinstand gekommen und hatte, als ihm die Verkäuferin nichts mehr geben wollte, angefangen sie zu beschimpfen. „Ich bin Torsten Gütschow von Dynamo Dresden!" Doch den erhofften Glühwein gab es trotzdem nicht. Da rastete Gütschow aus, die Polizei musste geholt werden. Der Skandal war perfekt. Für Gütschow endete der Auftritt mit einer Abmahnung und Rocco Milde zum neuen Spielführer ernannt.

Beim Punktspielstart in Leipzig-Leutzsch fand sich der ehemalige Spielführer mit grimmiger Miene nur auf der Ersatzbank wieder. Bis kurz vor Schluss, als Hartmut Schade beim Stand von 1:2 zum Handeln gezwungen war. „Torsten, mach dich fertig", kam das Kommando. Die Schwarz-Gelben hatten noch einmal alles nach vorn geworfen. Plötzlich riss es alle Auswechselspieler von der Bank, Jens Reckmann hatte überraschend zum Ausgleich getroffen. Gütschow durfte die Trainingsjacke wieder anziehen. Der angestrebte Punkt war im Kasten. Mit dem Schlusspfiff musste Falk Terjek sogar das 3:2 gegen den FC Sachsen machen. Das Talent, einer der „jungen Wilden" im Team, war zum ersten Mal Anfang Januar auf der Fahrt ins Trainingslager aufgefallen. Die Tour nach Liberec endete für Terjek am deutsch-tschechischen Grenzübergang. Der 21jährige konnte keinen gültigen Personalausweis vorweisen, seiner war zu Silvester abgelaufen.

Großes Kino mit Kölmels Kinowelt

Die folgende Geschichte ist unglaublich, aber wahr. Sie erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Fall eines Mannes, der sein Vermögen von unglaublichen 1,6 Milliarden Mark schneller verloren hatte, als er einst dazu gekommen war. Begonnen hatte alles in Tunesien, irgendwann Mitte der 90er Jahre. In der nordafrikanischen Wüste drohten die Dreharbeiten für einen Film förmlich im Sand stecken zu bleiben. Zwölf Millionen hatte die Produktion „Der englische Patient" bis dahin gekostet. Da signalisierte ein Unternehmer aus München Interesse, der als diplomierter Mathematiker 1984 in Göttingen einen Filmverleih gegründet hatte und sein Leben lang ein Spieler war, der hohe Einsätze nicht scheute. Sein Name: Dr. Michael Kölmel. Er stieg in die bestehenden Verträge ein, einzige Bedingung, das bereits investierte Geld ginge ihn nichts an. „Der englische Patient" wurde abgedreht und Kölmel sicherte sich die deutschen Rechte an diesem Streifen. Das Geschäft hatte sich schon ein Jahr später gelohnt, bis zu diesem Zeitpunkt waren schon 55 Millionen eingespielt. Für Kölmel war das erst der Anfang. Der Kassenschlager wurde für den Oscar nominiert und die Fachwelt kam aus dem Staunen nicht heraus. Bei der Preisverleihung wurde „Der englische Patient" in sage und schreibe neun Kategorien mit Oscars dekoriert. Die Investition in den tunesischen Wüstensand brachte letztlich weltweite Einnahmen von mehr als 225 Millionen Dollar. 1998 ging Kölmel mit seiner Kinowelt an die Börse und wurde zum Aufsteiger des Jahres am Neuen Markt. Bis dahin hatte der Wuschelkopf, der auch als Börsenstar nur mit der Bahn, und zwar ausschließlich in der 2. Klasse unterwegs war, alles richtig gemacht. Die Millionen sprudelten, vergessen schien das schleppende Geschäft der Anfangsjahre. Mitte ´99 erhielt Kölmel den Zuschlag für ein Filmpaket von Warner Brothers und legte schlappe 300 Millionen Dollar auf den Tisch. Dafür hatte der Verkauf von zehn Prozent seiner Kinowelt-Aktien runde 200 Millionen Mark in die Kasse gebracht. Jetzt ging es um größere Beträge.

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Kein Anstand, lauter Ossis!

"Vor Wochen komm´ ich vor dem Training in die Umkleide, da sitzen die da und knobeln. Ich sag´ Morgen, die sagen Morgen. Da steht keiner auf, da hört keiner zu – kein Anstand. Lauter Ossis. Soll ich dafür Sorge tragen, dass die im richtigen Moment nicht den Tritt in den Arsch bekommen haben? Ich weiß: Das ist befristet. Und dann mache ich den Abflug hier."

Dynamo-Trainer Rolf Schafstall im Interview mit dem "SPIEGEL"

 


 

Tage später, das 1:1 vom Wochenende gegen den FC Sachsen Leipzig war schon fast vergessen. Matthias Großmann hatte in der Schlussminute zum glücklichen Ausgleich getroffen. Daraufhin bekam die Mannschaft von Schafstall erst einmal drei Tage frei. „Da können sie mal mit ihrer Frau in Ruhe spazieren gehen", hatte Schafstall begründet. Oder ahnte er da schon, was der SPIEGEL-Artikel am Montag auslösen würde? Nach der obligaten Pressekonferenz zum Spiel verwies er faktisch ungefragt vor laufender Kamera auf seine Äußerungen gegenüber dem „SPIEGEL", dass er nur Missstände habe anprangern, aber niemanden beleidigen wollen. Als er am Dienstag nach Dresden zurückgekehrt war, konnte er genau das dem Präsidium nur bedingt glaubhaft machen. Einen Tag nach Erscheinen der deftigen Sprüche hatte der „Freund des Ostens" sein Ziel erreicht, preschte nach nur 57 Tagen bei Dynamo mit einem roten VW Lupo vom Vereinsgelände und konnte Ostern ´99 wieder in aller Ruhe zu Hause in Krefeld feiern. Die Eier waren in diesem Jahr im Hause Schafstall mit Sicherheit wieder etwas größer, als in den Jahren zuvor. Dieses einmalige Kapitel hatte sich Dynamo schlappe 30.000 Mark kosten lassen.

Co-Trainer Damian Halata musste Karfreitag erneut den Lückenbüßer spielen und bis zur Verpflichtung des mittlerweile vierten Cheftrainers der Saison auf dem schwarz-gelben Schleudersitz Platz nehmen. In Berlin traf Bestrich nach einem fürchterlichen Kick in der 94. Minute zum 2:1-Siegtreffer für den Dynamo-Erzrivalen, auch wenn sich der BFC zu diesem Zeitpunkt noch FC Berlin nannte. Nur wenige Stunden nach dieser Pleite wurde in Dresden die Verpflichtung des neuen Trainers bekannt gegeben. Sein Name: Colin Bell! Wer ist denn das? Genau diese Frage hatte die Führungsriege erwartet und auf der Presseerklärung prominente Trainer wie Toni Woodcock, Lorenz-Günter Köstner, Toni Schuhmacher oder Ralf Minge wahre Loblieder auf den im englischen Leicester geborenen Nobody singen lassen. Was zu diesem Zeitpunkt in Dresden keiner ahnen konnte, Bell, zuletzt Talentesichter beim 1. FC Köln, hatte bereits einen Vorvertrag mit einem anderen Verein in der Tasche. Der 37jährige sollte eigentlich beim FC Sachsen Leipzig einsteigen, als Nachwuchskoordinator. Die Kinowelt, offiziell erst drei Wochen zuvor auch in Leutzsch als Geldgeber eingestiegen, machte es möglich. Pech für die Sachsen oder für Dynamo? Zunächst erst einmal Glück für den smarten Engländer, der nicht nur 12.500 Mark im Monat kassieren durfte, sondern auch erst einmal die Herzen der weiblichen Dynamo-Fans höher schlagen ließ. Selbst Gitta Müller, auf der Geschäftsstelle das ständige Kommen und Gehen gewohnt, verdrehte liebevoll die Augen. „Das möchte man noch einmal 20 Jahre jünger sein!" Kunststück, sie kannte vom selbstbewussten Jung-Coach ja nur die Schokoladenseite. Auf dem Trainingsplatz jubelte Bell am lautesten, wollte immer mitspielen und konnte wunderbar fluchen: „Fuck!"

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„Wir kommen wieder" – Sprüche dieser Art hatte es bei Dynamo oft gegeben. Dieser Slogan aber gehört mit Sicherheit zu den Teuersten. Die Leipziger Agentur „torpedo" hatte im Sommer 2000 ihre ganze Kreativität in eine Werbekampagne investiert und dafür schlappe 60.000 Mark bekommen. Heraus kam zum Beispiel ein Plakat mit den drei alten Oberligawimpeln vom 1. FC Magdeburg, dem HFC Chemie und Lok Leipzig. In großen Buchstaben war zu lesen: „Wiedersehen macht Freude. Nicht wieder sehen macht glücklich". Für die Konkurrenz in der vierten Liga sollten diese Wortspiele in der Saison 2000/01 zur optimalen Einstimmung auf die Begegnungen mit Dynamo werden. Den Rest besorgte Cor Pot. Der Holländer hatte sich schon vor dem Saisonstart bei allen Teams entschuldigt: „Wir werden vom ersten bis zum letzten Spieltag an der Spitze stehen!"

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Glück muss man haben

Wer war der Torschütze zum 3:1 im 76er Olympia-Finale der DDR gegen Polen? Für Geschäftsführer Volkmar Köster war die Beantwortung dieser Frage im Rahmen des MDR-Olympia-Gewinnspiels ein Klacks. Beim Anrufen hatte er dann sogar das nötige Glück und gewann als genau 25. Anrufer sagenhafte 50 Kilogramm Nudeln eines Teigwarenherstellers aus der Region und eine Schürze. Alle Versuche, den Preis gegen ein Mountainbike zu tauschen, blieben ergebnislos. Das Fahrrad war für den 50. Anrufer reserviert. Köster versuchte sein Glück erneut, diesmal allerdings ohne Erfolg. Noch am gleichen Tag holte sich der Geschäftsführer seinen Gewinn in Dresden ab und stand am Abend mit einem Zentner Nudeln vor der Tür.


 

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Gut eine Woche später, am Abend des 9. Mai 2001 waren nur noch 920 Zuschauer gekommen. Ein Punktspiel im engsten Familienkreis, so etwas hatte es bei Dynamo ewig nicht gegeben. Die Wacker-Elf aus Nordhausen war zum Nachholspiel mit nur elf Spielern angereist, einer hatte sich beim Aufwärmtraining auch noch verletzt. Elf gegen zehn, es wurde ein ungleicher Kampf. Fünfmal gab es Grund zum Jubeln, viel mehr aber auch nicht. Mit dem Schlusspfiff hatte jeder Dynamo-Kicker 900 Mark Prämie verdient, für jeden Punkt gab es unabhängig vom Tabellenstand 300 Mark. Der Verein stand am Tiefpunkt seiner Geschichte.

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