Anfang Juni saß ich bei Gert im Krankenhaus. Entgegen unseren Gepflogenheiten - da ging es in erster Linie um Fußball, um Dynamo und erst nachrangig um alles andere - sprachen wir über wirklich alles - vielleicht, weil wir wussten, dass es sehr wahrscheinlich unser letztes Gespräch sein würde.

Im März 1990 hatte ich ihn zum ersten Mal erlebt, bei der Fußball-Weltgala in Dresden. Zwischen Helmut Kohl, Veronika Fischer und Fritz Walter sah ich da einen Typen, ganz in weiß, mit Mikrofon - die Haare offenbar gefärbt - der die Fußball-Stars aus der ganzen Welt nicht nur dirigierte, er spielte sie an die Wand. Das Stadion war seine Bühne. Apropos: Auf der Bühne nannten wir uns distanziert „Kollege Zimmermann“ und „Kollege Karte“. Wenn wir uns anriefen oder trafen - verwendeten wir das für uns Vertrauliche: „Genosse“. Das hatte sich - ohne jede politische Ausrichtung - einfach so ergeben. Und so begrüßte ich ihn eben auch an diesem Donnerstag vor vier Wochen im Krankenhaus mit „Genosse“ - worauf er die ein wenig irritiert wirkende Schwester kurz beruhigen musste, es sei schon alles in Ordnung.

Wie aber fängt man ein Gespräch an - wenn man weiß, es wird das letzte sein? Zimmi im Krankenbett, ich gegenüber. „Jetzt nimm doch mal das Scheißding ab“, forderte er mich auf und zeigte auf meine Maske. Das nahm den Umständen die Steifheit und wir fingen an - wie gewöhnlich - zu plaudern. Über Ralf Minge und dessen frisch verkündetem Abschied von Dynamo. „Unglaublich!“, polterte Zimmi und ich überlegte, wie oft ihn sein Lieblingsverein schon zu diesem Kommentar getrieben hatte. Mir fiel auf: Seine Stimme hatte viel von ihrer Kraft verloren. Woher sollten die Körner auch kommen? Er beschrieb seine Tagesration: Ein Tässchen Spargelcremesuppe, eine Erdbeere und ein Kirsche. Dabei hatte er für sein Leben gern gegessen. Für ein leckeres Filetsteak Stroganoff stellte er sich sogar selbst an den Herd. Danach, natürlich, ein Gin Tonic. Oder spätabends das geliebte Walnuss-Eis. Für das gute Gewissen oder zumindest die Beruhigung dessen sorgte das Fußball spielen an einem jeden Dienstag.

Und schon purzeln die Erinnerungen. Kennengelernt hatten wir uns im Sprecherturm auf der Pieschener Allee, Sonntag früh um 10, irgendein Volkssportturnier. Dort stellte ich mich vor, er erwiderte kurz: „Ich bin der Zimmi!“ und konnte sich vor vier Wochen beim besten Willen nicht mehr daran erinnern - ist ja auch schlappe 30 Jahre her. Ab 1991 hatten wir regelmäßig miteinander zu tun. Bevor er sonntags in der Redaktion erschien, hörte man meist schon seinen Wortschwall im Treppenhaus. Bald wurde er für mich der „GeZi“, das war sein Kürzel bei der Zeitung, der „UNION“.

Zurück ins Haus L - Station 20 - Zimmer 132. Wir sprachen auch über den „Fall der Fälle“ - wie es Gert nannte. Natürlich ohne das Wort Trauerfeier in den Mund zu nehmen. Für mich war er in diesem Moment ein Meister der verbindlichen Unverbindlichkeit. Das konnte er perfekt, wenn es um persönliche Dinge, oder emotionale Befindlichkeiten ging. Da drückte er sich gern und lenkte sich mit den täglichen Aufgeregtheiten ab. Und nun? Fragte er unvermittelt: Machst du mir dafür auch so ein Filmchen - wie damals beim Doc? Ich verstand, was er meinte. Im Dezember 2004 waren wir zur Trauerfeier nach Erfurt unterwegs. Nicht sicher, wie die vorbereiteten Bewegtbilder auf der Leinwand bei den Trauergästen ankommen würden. „Hier meldet sich Wolfgang Hempel aus dem Berner Wankdorf-Stadion“, begann damals der Nachruf und er kommentierte mit der nun etwas heiseren Stimme: „Das war wegweisend!“ „Zimmi“ hat den „Doc“, wie wir Wolfgang nannten, ein Leben lang sehr verehrt. Und konnte ihn wunderbar imitieren, oft und gern bediente er sich aus dessen Repertoire.

Sprachlos erlebte man den GeZi eher selten. Ein Sheriff in den USA schaffte es mal mit ein paar spontanen Zwangsmaßnahmen. Gert - es war im Rahmen der Fußball-WM 1994 unterwegs - war von ihm auf einem Highway heraus gewinkt worden und irritierte den Ordnungshüter mit seinem Mitteilungsbedürfnis. Sekunden später spürte er das Autodach unter der Kinnlade und hatte - breitbeinig am Mietwagen stehend - die Leibesvisitation über sich ergehen zu lassen und hielt jetzt lieber die Klappe. Ich schaffte Ähnliches mit einer ganz banalen Frage: Wohin fährst Du in den Urlaub? Nach einer für ihn ungewöhnlich langen Pause schaute er mich völlig entgeistert an und fragte zurück: „Urlaub?“ Dann beschrieb er den für ihn perfekten Tag - sagen wir Mitte der 80er Jahre: Der begann mit der Frühschicht im Hotel und dem Eindecken der Tische. Nach der Schicht eilte „Oberstkellner Zimmermann“ in den Großen Garten, um dem Training der Dynamos beizuwohnen und dann in der Texterfassung der Redaktion den netten Mädels ein paar Zeilen zu diktieren. Von der Zeitung ging es direkt zur dritten Schicht des Tages, als DJ mit seiner „Internationalen Musikmaschine". Das war seine Welt! „Hat mir Spaß gemacht, ich konnte nicht genug davon bekommen und hätte mich im Urlaub nur gelangweilt“, ich glaubte ihm aufs Wort!

Bis zuletzt hatte sich daran nicht so viel geändert. Die perfekte Woche der letzten Jahre begann am Freitagabend mit dem Spiel bei den Eislöwen und den Gesprächen mit den Oldies. Samstag mittag dann Dynamo, mit Currywurst und belegten Brötchen. Mit Spielschluss die Grätsche vor der Haupttribüne, ein streitbares YouTube-Format. Entweder mochte man es oder eben auch nicht. Zimmi liebte den Boulevard. Sonntag früh dann auf ein Bierchen bei der Post auf der Hebbelstraße. Oder doch gleich zur 3. Liga in Chemnitz oder Zwickau? Dienstag dann Champions League in Leipzig, Mittwoch Volleyball in Dresden, Donnerstag eine Veranstaltung im Schloß Schönfeld und wann nochmal gibts denn nächsten Talk mit Meyer und Geyer? Dazu alles vom Sport-Stammtisch bis hin zur Pflegemesse - das war seine Welt und in gewisser Weise auch seine Familie.

„Darf ich Dich fragen, wie das im Herbst bei Dir mit der Krankheit angefangen hat?, wollte ich von ihm wissen und er erzählte. Nach der Diagnose trafen wir uns im Großen Garten, er nahm mich zur Seite. Ein Blick in sein Gesicht verriet den Ernst der Lage. „Danke, dass Du letzte Woche für mich die Mugge übernommen hast!“, sagte er, ich winkte nur ab und fragte: „Sehr schlimm?“ Er nickte kurz.

Was uns immer verbinden wird, sind die beiden Dynamo-Bücher. Zum zweiten hatte er mich im Frühjahr 2012 überredet und war unheimlich stolz, als es im August 2013 endlich fertig war. Mit zehn fleißigen Helfern - darunter Gitta Müller, die gute Seele auf der Dynamo-Geschäftsstelle - waren wir zuvor in die Druckerei nach Zwickau gefahren, um zwei Tage lang jedem Buchkäufer seine Wunsch-Widmung handschriftlich einzutragen. Die Reaktionen aber waren jede Mühe Wert.

Das erste Buch - geschrieben im Frühjahr und Sommer 1993 - Dynamo bekam gerade minus vier Punkte aufgebrummt - war ein Projekt, wo man Optimismus sehr gut gebrauchen konnte. Was aber passierte ein Vierteljahr später? Dresden schlug erst die großen Bayern im DFB-Pokal und gewann in der nächsten Runde das Elfmeterschießen gegen Bayer Leverkusen. Als Pavel Hapal den Torhüter der Schwarz-Gelben narren wollte - blieb Stanislaw Tschertschessow ganz cool und „Zimmi“ orgelte in seiner Live-Reportage für die Ewigkeit: „...und der Russe bleibt stehen wie Lenin auf dem roten Platz!“

...und wie macht man das, sich für immer zu verabschieden? Ich sagte Gert, was mir gerade durch den Kopf ging. Auf der Palliativstation waren zwei Stunden wie im Flug vergangenen. Hätt ich gar nicht gedacht, sagte er und ergänzte: Dass ich so lange noch durchhalten kann! Die Kraft lässt doch spürbar nach - jeden Tag ein bißchen. Aber danke Dir, ich habe heute Abend über vieles nochmal nachzudenken - zum Abschluss hielt er mir die Faust hin - der Corona-Gruß zum Abschied.

So einen Typen wird es vermutlich nie wieder geben. Zimmi war einzigartig, dazu ein Produkt seiner Zeit. Ich hoffe nur, wo auch immer er jetzt ist, er lässt die anderen auch mal zu Wort kommen. Mein Lieber, machs gut, es war mir eine Ehre!

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